Nutrigenomik ist kein neuer Frühstücksriegel, sondern der Name einer Disziplin, die sich im Gefolge des Humangenomprojekts entwickelt hat. Sie ist ein reiches Feld für Forscher mit interdisziplinärem Ansatz. Angezogen fühlen sich aber auch Unternehmer, die es mit der strengen Wissenschaft nicht ganz so genau nehmen.
Wenn Sally in ein Restaurant geht, dann bestellt sie nicht einfach ein Essen, sondern zückt zunächst einmal den dreißigseitigen Bericht ihres Nutrigenomikexperten. "Sie haben Variationen in einigen Genen Ihres Vitamin B-Stoffwechsels", heißt es dort sinngemäß, und: "Achten Sie deswegen auf eine ausreichende Aufnahme von Vitamin B6, B12 und Folsäure". Zwei Absätze weiter verrät ihr das Dokument, dass Innereien, aber auch Gemüse als Vitamin B-reiche Nahrungsmittel in Frage kommen. Sally entscheidet sich für Letzteres und kann den Abend nun so richtig genießen.
Korrelationen gibt es viele. Doch Kausalketten zu finden, ist schwer
Sally ist eine von mehreren Beispielkunden, die die Firma Genelex auf ihren Internetseiten vorstellt. Wie einige andere Firmen bietet das in den USA ansässige Unternehmen individuelle Gentests an, die dem Kunden dabei helfen sollen, sich richtig zu ernähren. Die Disziplin, die Licht in die Zusammenhänge zwischen individueller genetischer Ausstattung und Ernährung zu bringen hofft, nennt sich Nutrigenomik. Nutrigenomiker wollen heraus finden, ob es bestimmte Gene gibt, deren günstige oder ungünstige Wirkung auf den menschlichen Organismus von der Zusammensetzung der Ernährung abhängt. Ziel ist letztlich die Prävention von Krankheiten, indem maßgeschneiderte Ratschläge an die Hand gegeben werden, wie mit der von der Natur vorgegebenen genetischen Ausstattung am besten umzugehen ist. Die Nutrigenomik steckt noch ganz in den Anfängen, wie auch die meisten Wissenschaftler zugeben, die sich mit der Thematik beschäftigen. Zwar sind mittlerweile zahlreiche Gene bekannt, deren Aktivität sich beeinflussen lässt, wenn bestimmte Nährstoffe aufgenommen oder gemieden werden. Die klinische Relevanz aber ist in den meisten Fällen völlig unklar. Ein gut beschriebenes Beispiel ist das Gen für die Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR), die am Folsäurestoffwechsel beteiligt ist. Es gibt bei einem Teil der Bevölkerung genetische Varianten, die zu einer Hyperhomocysteinämie führen, wenn zu wenig Folsäure aufgenommen wird. Diese Hyperhomocysteinämie gilt als Risikofaktor für Herz-Kreislaufleiden, sodaß der Schluss nahe liegt, dass die Aufnahme von Folsäure eventuell das Infarktrisiko senken könnte. Doch der medizinisch wichtige Nachweis, dass ein medikamentöses Absenken des Homocysteinwerts tatsächlich etwas bringt, steht genauso aus wie der Nachweis, dass dies durch eine Anpassung der Ernährung geschehen könnte. Dieses Problem gilt in ähnlicher Weise für viele andere getestete Gene, etwa jene für das Enzym Superoxiddismutase. Sie sollen Aussagen über die Anfälligkeit des Betreffenden für oxidativen Stress erlauben und dienen den Firmen als Basis für Empfehlungen zur Aufnahme von Antioxidanzien.
Ihr zuständiger Arzt schwimmt gerade in der Ägäis
Obwohl der medizinische Sinn genbasierter Ernährungstipps in den meisten Fällen also noch Spekulation ist, testen mehrere Firmen zahlreiche dieser noch intensiv beforschten Gene bereits heute bei Kunden, die um ihre Gesundheit besorgt sind. Und sie verdienen nicht schlecht damit. Genelex beispielsweise verkauft nach eigenen Angaben pro Woche fünfzig genetische Test-Kitts zu einem Stückpreis von 395 US-Dollar. Mit Hilfe der Test-Kitts fertigen die Kunden einen Wangenabstrich an, den sie zusammen mit einem ausgefüllten Lifestyle-Fragebogen an die Firma zurück senden. Dort wird der Abstrich auf 19 Gene hin untersucht, die die Grundlage für eine schriftliche Ernährungsberatung bilden. Die in England ansässige Firma Sciona wendet sich nicht direkt an den Verbraucher, sondern verlangt zumindest, einen Arzt dazwischen zu schalten. Dafür bedient sie auch den deutschen Markt, was freilich nicht heißt, dass der zuständige Arzt auch nur irgendwo in der Nähe sein muss. Ein kurzer Anruf des Autors bei den Briten führte zu folgendem Dialog: "Guten Tag. Ich lebe in Berlin und interessiere mich für Ihren Ernährungstest." "In Ordnung. Der für Sie zuständige Arzt sitzt in Griechenland." "In Griechenland?" "Keine Sorge, Sie müssen da nicht hin. Ich gebe Ihnen seine E-Mail-Adresse. Dann können Sie sich bei ihm melden und das Informationsmaterial wird Ihnen sofort zugeschickt." Fazit: Wer Gentests nutzen möchte, um seine Speisekarte umzustellen, der kann sich unter anderem in den USA, in England, Südafrika oder Griechenland umsehen. Die scheinbar individuellen Tipps ("Mehr Gemüse", "Nicht Rauchen", "Wenig Alkohol") sind allerdings meist auf einem Niveau, das auch der gesunde Menschenverstand erreicht. Für knapp 400 US-Dollar könnte man also auch einfach gut essen gehen.