Die EKG-Diagnostik funktioniert seit knapp hundert Jahren gleich. Doch nichts ist für die Ewigkeit gemacht: Hochauflösende Geräte nehmen jetzt mit PC-Unterstützung den QRS-Komplex in Echtzeit aufs Korn. Mit am Krankenbett: Die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA.
Mit der Aussicht auf ein neues EKG-Gerät lässt sich heute kein Technikfreak mehr hinter dem Ofen hervor locken. Innovationspreise winken dafür auch nicht, denn das Elektrokardiogramm ist betagt, ein echter Oldie. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt. Spätestens seit Mitte des vorigen Jahrhunderts gilt die Technik als ausgereift und wurde seither nicht wesentlich verändert. Was dazu kam, sind Computerauswertungen, Endlospapier, 24-Stunden-Geräte und das Belastungs-EKG: Alles Modifikationen, keine Revolutionen.
Houston! Wir haben ein Problem (gelöst?)
Das EKG ist in der Inneren Medizin immer noch die Diagnosemethode der allerersten Wahl bei Menschen, bei denen ein Verdacht auf eine koronare Herzerkrankung besteht. Dass das EKG Schwächen hat, bestreitet niemand. Vor allem die Sensitivität ist relativ gering. Je nach Studie ist ein 12-Kanal-EKG bei Patienten, bei denen schließlich ein Myokardinfarkt diagnostiziert wird, bei Aufnahme nur in 24 bis 60 Prozent der Fälle positiv, also auffällig im Sinne ischämietypischer Veränderungen. Dafür ist das EKG billig und kann von jeder Arzthelferin in jeder Praxis und von jedem Rettungsassistenten in jedem Rettungswagen in null Komma nichts angefertigt werden. Aber lässt sich beides verbinden? Das einfache, billige EKG mit einer besseren diagnostischen Genauigkeit? Amerikanische Astronauten sagen: Ja. Im Johnson Space Center in Houston, Texas, wurde in den vergangenen Jahren eine Software entwickelt, die sich das ganz normale EKG etwas genauer ansieht, als ein Arzt das tun kann. Die neuen Hochfrequenz-EKG-Geräte werden gerade in zwölf Kliniken in den USA erprobt und stehen jetzt Europäern zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen. Konzentriert sich die klassische Ischämiediagnostik auf das Verhalten der ST-Strecke in Relation zur gedachten Grundlinie, so steht bei der HF-QRS-Technologie der QRS-Komplex im Fokus. Wenn statt der Signalfrequenzen im traditionellen EKG, üblicherweise unter 100 Hertz, höhere Signalfrequenzen von 150 bis 250 Hertz verwendet werden, dann ergibt sich eine Linie, die für das menschliche Auge geriffelt aussieht und nicht zu interpretieren ist, ähnlich einem elektrischen Störsignal. Ganz anders für einen Computer: Der kann diese Riffelungen auswerten und daraus Parameter extrahieren, die für eine Ischämiediagnostik heran gezogen werden können. Diese sind deutlich sensitiver und spezifischer als die Auswertung der ST-Strecke mit Millimeterpapier und Bleistift.
Geballte Computerpower macht Hochfrequenzanalyse in Echtzeit möglich
Dass hochfrequente Veränderungen innerhalb des QRS-Komplexes besser auf drohende oder bereits manifeste Versorgungsengpässe am Herzmuskel hinweisen, ist an sich nicht neu. Das Phänomen wurde bereits in den achtziger Jahren beschrieben und in den Neunzigern von einigen Arbeitsgruppen untersucht. Das Problem: Die computergestützte Auswertung dieser Veränderungen war bisher extrem aufwändig. Eine Sofortdiagnose, wie sie Ärzte vom traditionellen EKG her gewohnt sind, war ein Ding der Unmöglichkeit. Die typischen Einsatzszenarien für EKG aber machen langes Warten auf Computerauswertungen zumindest lästig, wenn nicht sogar medizinisch untragbar. Die Hochfrequenzanalyse des QRS-Komplexes hat deswegen nie den Weg in die Klinik gefunden. Durch die jetzt von den NASA-Wissenschaftlern entwickelte Software hat sich das geändert. In Verbindung mit PC-basierten EKG-Systemen ist es nun möglich, Hochfrequenzsignale im QRS-Komplex in allen zwölf Ableitungen in Echtzeit auszuwerten, also noch während der Patient vor einem sitzt. Damit können klinisch relevante Fragestellungen innerhalb klinisch relevanter Zeitspannen beantwortet werden. Erste kommerzielle Systeme, die das Verfahren nutzen, werden derzeit auf Elektrophysiologiekongressen rund um die Welt vorgestellt. Das HFQRS-ECG der Firma Cardiosoft aus Texas wird im September in Lyon auf dem Kongress Computers in Cardiology zu sehen sein. Auch an das Cardiax-System der ungarischen Firma IMED und an andere PC-basierte EKG-Systeme lasse sich die NASA-Software andocken, wie die Forscher in einer Übersichtsarbeit für die Mayo Clinic Proceedings schreiben.
Gute Korrelation mit klinischen Risiken und experimentellen Ischämiemodellen
Als EKG-Parameter für die Ischämiediagnostik schlagen die Amerikaner unter anderem die Zonen reduzierter Amplitude (RAZ) vor, ein morphologisches Merkmal. Auch die Gesamtenergie der zahlreichen Hochfrequenzimpulse kann per Computer ermittelt werden und geht als quantitativer Parameter in die Auswertungen ein. Die ersten klinischen Studien geben den Erfindern von der Weltraumbasis Recht. Eine Untersuchung bei 103 NASA-Mitarbeitern ohne bekannte KHK und mit unauffälligem 12-Kanal-EKG zeigte, dass der Hochfrequenz-EKG-Befund statistisch signifikant mit der Zahl an kardiovaskulären Risikofaktoren korrelierte. Ein ähnliches Ergebnis gab es bei 34 Patienten, die sich einer elektiven Koronarangiographie unterzogen: Das Auftreten von RAZ-Phänomenen stand in engem Zusammenhang mit dem Vorhandensein von kritischen Stenosen. Die EKG-Veränderungen korrelieren zudem weit enger mit den Enzymveränderungen im Verlauf eines Myokardinfarkts als es die Veränderungen der ST-Strecke tun. Und auch die provozierten Ischämien während eines Adenosinstresstests lassen sich mit der neuen Technik gut abbilden, wie eine erst kürzlich vorgestellte Untersuchung zeigt. Einen kleinen Schönheitsfehler hat die Sache freilich: Auch andere Herzerkrankungen führen zu starken Veränderungen in den Hochfrequenzkurven. In wie weit das klinisch ein Problem ist, muss erst noch untersucht werden. Software und Patientendatensätze werden von den Wissenschaftlern aus Houston jedem Interessierten zur Verfügung gestellt.