Die allgegenwärtige Chemikalie Bisphenol A kann dick machen. Neurowissenschaftler haben nun herausgefunden, warum. BPA stört offenbar den Stoffwechsel des „Sättigungshormons“ Leptin. Doch entscheidend ist der Zeitpunkt der BPA-Exposition.
Bisphenol A (BPA) ist in der industrialisierten Welt nahezu allgegenwärtig. Es kommt beispielsweise in Plastikverpackungen, in Konservendosen und in der Beschichtung von Kassenzetteln vor. Im Zuge von Populationsstudien konnte BPA - oder Derivate der Substanz - bei 90 Prozent aller Teilnehmer im Urin nachgewiesen werden.
Schon seit vielen Jahren ist bekannt, dass BPA ähnlich wie das weibliche Geschlechtshormon Östrogen wirkt und damit bereits in geringen Dosen den menschlichen Hormonhaushalt empfindlich beeinflussen kann. Die Substanz gilt als schwacher Agonist der klassischen, nuklearen Östrogen-Rezeptoren und als relativ starker Agonist des Östrogen-empfindlichen Membranrezeptors GPR30. Doch auch andere nuklearen Rezeptoren beeinflusst BPA agonistisch oder antagonistisch. 2013 berichtete DocChek, dass BPA den Zahnschmelz nachhaltig und irreversibel schädigen kann. Auch ein höheres Risiko für Autismus, gestörte Wachstumsprozesse und Übergewicht wurde bereits mit BPA in Verbindung gebracht.
Wissenschaftler vermuten, dass der Entwicklungsstatus zum Zeitpunkt der BPA-Exposition maßgeblich für den Grad der Veränderungen im betreffenden Organismus ist. Zahlreiche Studien an Nagern hatten bereits gezeigt, dass eine frühe Exposition mit BPA das Körpergewicht, den Glukose- und den Leberstoffwechsel beeinflusst. Auch beim Menschen ist die pränatale Phase eine besonders sensible Zeit für das heranwachsende Kind, in der Umwelteinflüsse bereits in geringen Dosen weitreichende Auswirkungen haben können. Wer häufig mit Thermopapier von Kassenbons in Berührung kommt, hat nachweislich mehr BPA im Urin. Foto: Lkawer, gemeinfrei.
Eine Kohorten-Studie1 an 369 Mutter-Kind-Paaren aus New York City, die 2016 in „Environmental Health Perspectives“ veröffentlich wurde, zeigte: Je höher die BPA-Konzentration während der Schwangerschaft im Körper der Mutter war, desto dicker waren die Kinder mit 7 Jahren. Basis der Studie war ein Urintest der Schwangeren im dritten Trimester der Schwangerschaft auf BPA, sowie Urintests der Kinder zwischen 3 und 5 Jahren. Zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr der Kinder erfassten die Forscher Größe, Gewicht und Fettmasse der Kinder. Mädchen waren von der Erhöhung des Fettmasseindex (Körperfettmasse im Verhältnis zur Körpergröße) durch BPA besonders betroffen. Die BPA-Belastung, der die Kinder nach der Geburt ausgesetzt waren, schien hingegen keinen Einfluss auf das Körpervolumen der Kinder zu haben, denn die Wissenschaftler konnten in dieser Studie keine Korrelation zwischen dem BPA-Gehalt im Urin der Kinder und dem Grad des Übergewichts feststellen. „Die vorgeburtliche Exposition mit BPA könnte ein Grund dafür sein, dass immer mehr Kinder schon in jungen Jahren mit Übergewicht zu kämpfen haben“, schlossen die Forscher aus ihren Studiendaten. In Milchflaschen für Babys wurde BPA im Jahr 2011 verboten. Von Simplicius , CC BY-SA 3.0.
Ein weiteres Wissenschaftlerteam hat nun erste Hinweise2 gefunden, warum BPA dick macht. Die Studie erschien in der Zeitschrift „Endocrinology“. Übergewicht entsteht, wenn der Körper mehr Nahrung aufnimmt, als er benötigt. Normalerweise sendet das auch als „Sättigungshormon“ bezeichnete Leptin ein Signal an den Hypothalamus, wenn die Fettspeicher des Körpers ausreichend gefüllt sind. Weil der Körper dann keine weitere Nahrung mehr aufnehmen muss, zügelt Leptin den Appetit. Bei stark übergewichtigen Menschen funktioniert diese Kaskade häufig nicht mehr richtig. Wissenschaftler vermuten, dass der Fehler in der Kommunikation zwischen Hormon und Gehirn liegt, denn die Appetitzentren im Gehirn nehmen das Sättigungssignal nicht mehr wahr und die Betroffenen essen weiter, obwohl der Körper längst keine Nahrung mehr benötigt.
Um zu prüfen, ob auch BPA über Leptin die Sättigungszentren im Gehirn beeinflusst, setzten die Wissenschaftler den Stoff der Nahrung von trächtigen Mäusen zu. Die Menge an BPA entsprach einer Konzentration, die von den zuständigen Behörden als unbedenklich eingestuft wird. Die ebenfalls trächtigen Kontroll-Mäuse erhielten dasselbe Futter ohne BPA oder mit der östrogen-ähnlichen Substanz Diethylstilbestrol (DES). Als die Mäusebabys geboren waren, untersuchten die Forscher im Blut und im Gehirn der Tiere, wie sie auf Leptin reagierten. Das Ergebnis: Die jungen Mäuse aus den BPA-belasteten Muttertieren reagierten kaum auf das injizierte Leptin, das bei unbelasteten jungen Mäusen zu einem Sättigungsgefühl führte. Die vorbelasteten Mäuse verloren während des Versuchs weniger Gewicht als unbelastete Jungtiere. In einem nächsten Schritt untersuchte das Team, warum der Leptin-Stoffwechsel bei diesen Tieren gestört war. Der Grund für das fehlende Sättigungsgefühl ist offenbar ein fehlender Leptin-Schub, den junge Mäuse normalerweise kurz nach der Geburt erfahren. Bleibt dieser Schub aus oder tritt wie bei den Versuchsmäusen verspätet auf, ist der Hypothalamus für Leptin-Signale nicht mehr voll empfänglich.
Seit März 2011 dürfen europaweit keine Babytrinkflaschen aus BPA-haltigem Kunststoff mehr verkauft werden. Während die Die EU Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) nach Auswertung neuer Studien im Januar 2015 den Grenzwert für die als unbedenklich geltende tägliche Aufnahme von Bisphenol A durch den Menschen von bisher 50 Mikrogramm auf 4 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag gesenkt hat, hat Frankreich die Verwendung von BPA zu diesem Zeitpunkt generell verboten. In Deutschland ist ein generelles BPA-Verbot bisher nicht in Sicht.
1 Bisphenol A and Adiposity in an Inner-City Birth Cohort. Environ Health Perspect. 2016 Oct;124(10):1644-1650. 2 Perinatal Exposure to Low-Dose Bisphenol-A (BPA) Disrupts the Structural and Functional Development of the Hypothalamic Feeding Circuitry. Endocrinology en.2016-1718.