Zum ersten Mal meldet sich beim Thema Medizintelematik eine nennenswerte Zahl von Krankenhäusern zu Wort. Die "elektronische Fallakte" soll die Niedergelassenen ins Klinik-EDV-Boot holen. Sie ist die Antwort der Kliniken auf die Patientenakte der Politik und beweist: Digitale Vernetzung braucht keine Verbände.
Die privaten Klinikketten entwickeln sich bei der Modernisierung der IT-Landschaft im deutschen Gesundheitswesen immer stärker zum Taktgeber. Mit erheblichen Summen werden derzeit bei Asklepios, Rhön, Helios und Co digitale Röntgenarchive aufgebaut, EDV-Systeme harmonisiert und Zuweiserportale entwickelt, um den Service für niedergelassene Ärzte zu verbessern. Allein der Asklepios-Konzern hat gerade in Hamburg sieben Millionen Euro für ein PAC-System von Philips locker gemacht, auf dessen Zentralarchiv die (demnächst) sechs Hamburger Asklepios-Häuser gemeinsam zugreifen können.
Klinikketten positionieren sich in Sachen Telematik
Doch das ist längst nicht alles: Ende des Monats soll die Spezifikation einer auf die Initiative der privaten Klinikketten Asklepios, Rhön und Sana zurückgehenden elektronischen Fallakte veröffentlicht werden. Sie wird vom Fraunhofer Institut für Software- und Systemtechnik (ISST) programmiert und mittlerweile auch von der Deutschen Krankenhausgesellschaft unterstützt. Es handelt sich um die erste deutliche Kundgebung von Klinikseite darüber, wie sich die Leistungserbringer auf stationärer Seite die künftige medizinische IT-Infrastruktur im deutschen Gesundheitswesen vorstellen. Die Fallakte ist eine Art elektronische Patientenakte, die allerdings, anders als die Patientenakte, über die im Rahmen der elektronischen Gesundheitskarte diskutiert wird, unter der Hoheit der Ärzte beziehungsweise Krankenhäuser stehen soll. Sie ist "fallbezogen", bildet also nicht das ganze Leben eines Versicherten ab, sondern lediglich die im Rahmen eines definierten Versorgungsszenarios anfallende Dokumentation. Gedacht ist dabei in erster Linie an Integrationsverträge oder auch Disease Management-Programme. Der Patient liefert einmalig zu Beginn sein schriftliches Einverständnis, dass ihn betreffende Dokumente einrichtungsübergreifend zugänglich gemacht werden, und das wars.
Aus der Praxis-EDV per Mausklick ins Klinikarchiv
Im Unterschied zu den üblicherweise für die "elektronische Patientenakte" angedachten Modellen wird bei der elektronischen Fallakte nicht an eine Serverspeicherung gedacht. "Die Speicherung und Verwaltung der Patientendaten erfolgt dezentral durch den jeweiligen Krankenhausträger", sagte Dr. Jörg Caumanns vom ISST in einem Vortrag auf der Computermesse CEBIT in Hannover, der das Projekt erstmals öffentlich machte. Dokumente, die in der Fallakte erscheinen sollen, werden für den Zugriff von außen gesondert markiert, das ist alles. Niedergelassene Ärzte können dann auf diese Daten zugreifen und haben so einen kompletten Überblick über die stationär erhobenen Befunde ihrer Patienten. Entscheidend ist nun, dass das ganze nicht als Webportal gedacht ist, von denen es ja schon einige gibt. Über eine Schnittstelle soll die Fallakte vielmehr direkt an die Praxis-EDV angeschlossen werden. Die Ärzte können dann aus dem Patientenblatt heraus die jeweils dazugehörige Fallakte abrufen und haben auch dann alle Befunde im Blick, wenn sie diese nicht in ihre eigene Dokumentation laden möchten. Die beiden Marktführer im Praxis-EDV-Markt, die CompuGroup und das Bamberger Unternehmen Docexpert, haben bereits signalisiert, dass sie in ihre Software entsprechende Schnittstellen integrieren werden. Damit hat die Fallakte sehr realistische Chancen auf eine rasche Umsetzung, da sie sowohl von einer robusten Zahl von Kliniken als auch von wesentlichen EDV-Herstellern im niedergelassenen Bereich mit getragen wird. Sie ist zudem nicht vom Kopfnicken der Gematik oder irgendwelcher Einzelverbände abhängig.
Nimmt die Fallakte der eCard-Kritik den Wind aus den Segeln?
Wie ISST-Mitarbeiter Jan Neuhaus betonte, sei die Fallakte ausdrücklich nicht als Konkurrenz zur elektronischen Patientenakte der Gematik gedacht, sondern als deren Ergänzung. Sie ist aber auch ein Kompromiss, denn sie löst tatsächlich einige Probleme der elektronischen Patientenakte, die insbesondere von Ärzteseite immer wieder vorgetragen werden. So ist sie für das jeweilige Versorgungsszenario, für den "Fall", vollständig, weil der Patient anfangs einmalig seine Einwilligung gibt und nicht jedes einzelne Dokument verbergen kann. Als "ärzteeigene" Akte ist sie zudem immer verfügbar, im Gegensatz zur elektronischen Patientenakte, deren Nutzung an die Anwesenheit der elektronischen Gesundheitskarte des Patienten gekoppelt ist. Trotzdem bleibt das Datenschutzbedürfnis des Patienten weitestgehend gewahrt, weil die ausführliche, im Extremfall lebenslange, Dokumentation unter seiner Hoheit bleibt. Außerdem kann er natürlich die Teilnahme an der Fallakte komplett verweigern, wenn sie ihm zu transparent ist.