Nahezu unbemerkt erobert die Künstliche Intelligenz immer mehr Bereiche der Medizin: lernfähige Softwareagenten können Entscheidungen fällen und Diagnosen erstellen - und vor allem Ärzte im Alltag unterstützen.
Die Anweisung war eindeutig: "Narcan" sollte der Patient erhalten - dasOP-Team verabreichte ihm statt dessen "Norcuron". Vor den Augen seinerÄrzte erlitt der Patient einen Herzstillstand. Der im Fachblatt"Artificial Intelligence in Medicine (2006, 36, 29-42) beschriebeneFall gehört zusammen mit weiteren 1,3 MillionenVerwechslungssituationen dieser Art allein in den USA zu jenenStress-bedingten Kliniksituationen, die sich womöglich umgehen ließen -wenn Ärzten Softwaresysteme mit Künstlicher Intelligenz (KI) zur Seitestünden. Denn im Vergleich zum menschlichen Handeln lassen sich solcheExpertensysteme oder Softwareagenten kaum überlisten - anhand einerVielzahl von Parametern erkennen sie, was sein darf, und was nicht. Dasletzte Wort, und damit verbunden die Bürde der Verantwortung gegenüberseiner Patienten, hat freilich auch beim Einsatz der KI der Arzt.
Alter Gedanke, neuer Glanz
Die Idee, mit Hilfe von speziellen Rechenalgorithmen undComputern das menschliche Denken nachzuahmen, um Maschinen komplexeEntscheidungen treffen zu lassen, ist nicht neu. Vor genau 50 Jahrentrafen sich Experten um Alan Turing auf der Dartmouth Conference onArtificial Intelligence - seitdem arbeiten Wissenschaftler an lernendenund intelligenten Systemen weltweit. Dabei spielen so genanntekünstliche neuronale Netze eine große Rolle. Denn sie kopieren das, wasdie Natur im menschlichen Gehirn vormacht: die neuronaleSignalübertragung während eines Lernprozesses. Doch während beimMenschen Synapsen und Nervenzellen den Weg zum erlernten Wissenausmachen, benutzen so genannte Softwareagenten die Sprache derComputerfreaks - Bits und Bytes, digitale 1en und 0en imitieren dieArbeit der humanen Neuronen. Die eigentliche Raffinesse der künstlichenIntelligenz freilich offenbart sich nur wenigen Experten: Währendherkömmliche Softwareprogramme lediglich das als Lösung eines Problemsanbieten, was der Mensch ihnen zuvor mühevoll einprägte, sindKI-Systeme in der Lage, aus selbst gemachten Erfahrungen vollkommeneigenständig zu lernen. Auf diese Weise avancierten KI-Systeme vorallem in den USA zu einem enorm potenten Werkzeug für den Klinikalltag.Schon heute können entsprechende Softwareagenten komplexe Datenbankenuntersuchen, und darin vorhandene Zusammenhänge mühelos erkennen.
Wie komplex das Anwendungspotenzial der Systeme hierzulande ist, zeigtedas Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) vorwenigen Monaten auf der weltweit größten Computermesse, CeBit, inHannover. Dort stellten die Experten das von ihnen entwickelte ModellCASCOM vor. Damit können Patienten und Ärzte während eines Notfalls aufsämtliche relevanten Patientendaten zugreifen - weltweit. "In CASCOMwerden die anwendungsspezifischen Dienste von intelligenten Agentengekapselt, die in der Lage sind, auch hochkomplexe Aufgaben indynamischen Umgebungen effizient zu lösen", beschreibt das DFKI dasSystem.
Tatsächlich könnte ein im Urlaubsland erkrankter Tourist überPDA mit Hilfe seines persönlichen CASCOM-Agenten auf Datenbeständeseiner behandelnden Ärzte oder seiner Versicherer zugreifen, umbeispielsweise Ärzte vor Ort über bestehende Vorerkrankungen zuinformieren. Die Vorteile des Verfahrens liegen auf der Hand: Dasbehandelnde Team ist detaillierter und schneller informiert, als durchden persönlichen Bericht des möglicherweise beeinträchtigtenErkrankten. Zudem können aufwändige Diagnostiken, die bereits imHeimatland am Patienten durchgeführt wurden, vermieden werden. DasKI-System erlaubt schließlich eine Analyse anhand der übermitteltenInformationen. Inwieweit eine rasche Behandlung vor Ort, oder aber derRücktransport des Patienten sinnvoller erscheint, kann der Arzt mitHilfe des Expertensystems herausfinden. Gerade Rettungsassistenten oderNotärzte, die stets einem völlig unbekannten Patienten gegenüberstehen, profitieren vom System - und können die Daten bereits vor demEintreffen mobil abrufen.
Klinische Studien mit Hilfe der KI
Das Potenzial der KI-Technologie im Klinikalltag haben Wissenschaftleraus Deutschland erkannt. Sechs Jahre lang gingen KI-Experten der Fragenach, ob Künstliche Intelligenz den Menschen bei der Steuerungkomplexer logistischer Prozesse ersetzen kann. "Grundsätzlich ja!",bilanzierte unlängst der Koordinator des Forschungsprogramms, StefanKirn vom Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik II der Universität Hohenheim.Kirn hatte die Einsatzmöglichkeiten der Künstlichen Intelligenz inklinischen Studien evaluiert. Die Ergebnisse hierzulande bestätigen denglobalen Trend: "Der Agent arbeitet proaktiv und kann aufunvorhergesehene Situationen reagieren, während klassischeSoftwaresysteme nur einem vorab festgelegten Bearbeitungsverfahren(Algorithmus) folgen können", erläutert Kirn die Vorteile der KI.Tatsächlich konnte das getestete System die Einhaltung der vorgegebenenBehandlungspläne wesentlich erleichtern. So gab das System an, wann dieMedikamente in bestimmten Zeitintervallen verabreicht und medizinischeUntersuchungen zur Überwachung erfolgen mussten. Vor allem aberkoordinierte es die anfallenden Informationen zu freien Räumen,Personal und Material. Die Logistik und praktische Durchführung einerklinischen Studie in die Hände eines KI-Systems zu legen mag für vielenoch ungewöhnlich klingen - dürfte aber zur wesentlichenEffizienzsteigerung im Klinikbetrieb beitragen.
KI für den Notfallmediziner
Wie sehr KI-Systeme den medizinischen Alltag prägen werden,verdeutlich ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Notfallmedizin:Die Behandlung von Vergiftungen mit Hilfe des KI-Systems DiMeTox (Diagnosis in Medical Toxicology). Der Grundgedanke des bislanglediglich als Forschungsprogramm entwickelten Systems ist einfach: Weilviele Patienten mit Vergiftungen gar nicht mehr in der Lage sind, etwasüber die aufgenommenen Substanzen zu sagen, müssen Ärzte anhandvon Symptomen wie Puls, Blutdruck, Pupillengröße oder Fieber innerhalbkürzester Zeit die richtigen Schlüsse ziehen. Zudem beruhen vieledieser ohnehin schwer zu erstellenden Diagnosen auf der langjährigenErfahrung des jeweiligen Arztes.
Genau hier setzten die Arbeiten einer internationalen Forschergruppemit Informatikern der FH Ravensburg-Weingarten und der TU München sowieeinem Vergiftungsexperten an der Uni-Klinik in Grenoble an. DieForscher bauten mit DiMeTox ein KI-Expertensystem auf, das den Arztunterstützt. Denn DiMeTox kann anhand der Symptome des Patientenangeben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmteVergiftung ist. Dazu bezieht das Expertensystem seine Informationenaus einer Datenbank, in der die Behandlungsdaten von rund 500 Patientengespeichert sind. Der Clou: DiMeTox vermag bereits erlangtes Wissen ausvergangenen Diagnosen auch auf neue Patienten zu übertragen. Auf dieseWeise handelt das KI-System nicht viel anders als der Arzt - nuremotionsloser und schneller, wie die Ergebnisse belegten. Immerhin:nahezu 90 Prozent aller Diagnosen erwiesen sich in den erstenTestphasen als richtig.