Ärztenetze sind in. Landlauf, landab, schließen sich Niedergelassene zusammen, um Patienten gemeinsam zu versorgen. Doch wer den Begriff Netz allzu wörtlich nimmt, wird enttäuscht. Zumindest elektronisch gesehen ist ein großer Teil der Ärztenetze gänzlich unvernetzt.
Ein Patient mit anhaltendem Husten kommt zum Pneumologen. Sobald er seine Krankenversichertenkarte vorlegt, erkennt das System ihn anhand der schon zuvor eingegangenen, elektronischen Überweisung des betreuenden Hausarztes. Das Patientenblatt wird automatisch angelegt und mit der Anamnese sowie mit dem aktuellen Röntgenbild des kooperierenden Radiologen gefüllt. Wenn der Patient das Behandlungszimmer betritt, hat der Arzt alle relevanten Informationen vorliegen und auch schon einen Blick auf das Röntgenbild geworfen. Seinen Befund stellt der Arzt per Mausklick dem einweisenden Kollegen zur Verfügung.
Praxisnetz-Studie fragt auch IT-Infrastruktur ab
Das geschilderte Idealszenario einer vernetzten Versorgung gehört längst zum kleinen Einmaleins der Gesundheitspolitik. Dass es kaum irgendwo existiert, ist die traurige Realität im Deutschland des Jahres 2006. Zwar nimmt die Zahl der Ärztenetze zu. Doch interessanterweise hat das bisher allenfalls in Einzelfällen zu einer verstärkten elektronischen Vernetzung geführt. Und auch die kaum mehr zu überschauenden Verträge zur integrierten Versorgung gehen nur ausnahmsweise mit einem durchdachten elektronischen Kommunikationskonzept einher. Das immer wieder vernommene Mantra, dass eine integrierte Versorgung ohne elektronische Vernetzung keine Sinn mache, klingt angesichts der unvernetzten Wirklichkeit merkwürdig abgehoben. Tendenziell deprimierende Zahlen lassen sich der jetzt vorgelegten Praxisnetz-Studie 2006 entnehmen. Es handelt sich um eine Erhebung des Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik II der Universität Erlangen-Nürnberg . Die Wissenschaftler haben 168 Praxisnetze in Deutschland angeschrieben. 72 davon nahmen teil, was einem Rücklauf von 43 Prozent entspricht. Inwieweit das eine repräsentative Auswahl ist, ist etwas schwierig zu beurteilen, weil die Grundgesamtheit unklar ist. Eine Meldepflicht für Ärztenetze gibt es in Deutschland genauso wenig wie für Bluthochdruck. Deswegen schwanken die Angaben zur Prävalenz von Ärztenetzen hierzulande in etwa so stark wie die zur Häufigkeit der arteriellen Hypertonie. "Es spricht nichts gegen die Annahme, dass die Stichprobe (...) für die deutschen Praxisnetze repräsentativ ist", so die Wissenschaftler um den Erstautor Günter Schicker vorsichtig.
Die deutsche Praxisnetzlandschaft ist eine IT-Wüste
Die von Schicker und seinen Kollegen zusammen gestellte Liste zu den Informations- und Kommunikationssystemen in deutschen Ärztenetzen liest sich wie die Rangliste der Splitterparteien bei einer Bundestagswahl. Nur sechs Prozent haben einen netzweiten Zugriff auf Patientendaten realisiert. Neun Prozent gaben an, über ein systematisches Datenmanagement zu verfügen, das ein routinemäßiges Controlling erlaubt. Nur jedes zehnte Netz nutzt gemeinsame Anwendungssysteme. Und nicht einmal jedes fünfte bedient sich eines Werkzeugs zum strukturierten, elektronischen Datenaustausch (zum Beispiel D2D). Das einzige elektronische Feature, das von immerhin der Hälfte aller Netze realisiert wurde, ist eine Praxisnetzhomepage. Doch auch dieser Wert liegt unter dem Durchschnitt für deutsche Einzelpraxen. Über die elektronische Gesundheitskarte, die sich auch auf die elektronischen Kommunikationsprozesse in Praxisnetzen auswirken wird, haben sich drei von vier Netzen in Deutschland noch keinerlei Gedanken gemacht. Nur jedes vierte unterhält einen Arbeitskreis, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Neun Prozent der analysierten Netze verfügen für den Austausch von sensiblen Patientendaten über ein zertifiziertes IT-Sicherheitskonzept. Lediglich jedes dritte Netz kann von sich behaupten, dass jeder Netzteilnehmer über einen eigenen E-Mail-Zugang verfügt.
Zentrale Netzakte hat sich in München bewährt
Wo Schatten ist, ist freilich auch Licht. Ärztenetze, die einen gemeinsamen Datenzugriff realisiert haben, gibt es. Zum Teil führte der Weg dorthin über eine Harmonisierung der Praxis-EDV-Systeme, was für die Mehrheit der Netze wohl keine ernsthaft zu erwägende Option sein dürfte. Es geht allerdings auch ohne, wie beispielsweise der Münchener Patient-Partner-Verbund zeigt, der in der Erlanger Studie beispielhaft erwähnt wird. Der PPV München umfasst 348 Haus- und Fachärzte, außerdem Apotheker, Physiotherapeuten und Pflegedienste. Es handelt sich um einen hausarztzentrierten Integrationsvertrag der AOK Bayern. Die Kommunikation läuft über eine internetbasierte Gesundheitsakte, in diesem Fall die Lifesensor®-Akte des Unternehmens InterComponentWare . Andere Akten, die in anderen Versorgungsszenarien Ähnliches leisten, sind zum Beispiel die vita-X-Akte der CompuGroup oder, ohne direkten Patientenzugriff, die Siemens-Netzakte Soarian Integrated Care . In München werden unter anderem Diagnosen, Medikamente, Laborberichte und Pflegeprotokolle zentral dokumentiert. In Zukunft müsste diese Online-Akte über Buttons in die EDV-Systeme der einzelnen Ärzte integriert werden. Für Lifesensor® ist das bisher nur bei einem einzigen Praxis-EDV-System realisiert. Doch dürften im Rahmen der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte Standardschnittstellen entstehen, die dann sicher häufiger bedient werden. Bis dahin heißt es in München doppelt dokumentieren, ein Aufwand, der den Ärzten im Rahmen des Integrationsvertrags allerdings durch entsprechende Mehreinnahmen vergütet wird.