Mit seinem Vorbericht zur Stammzelltransplantation hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen einen Aufschrei ausgelöst. Die IQWIGianer stellen sich quer zum Expertenwissen weltweit und rufen nach Studien, an denen wohl niemand je teilnehmen würde. Wo sind die Grenzen der reinen Evidenzlehre?
Kritik kann bekanntlich auch adeln, je nachdem, von wem sie kommt. DasInstitut für Qualität undWirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) istangetreten, um finanziell mächtigen und im Gesundheitsweseneinflussreichen Interessenvertretern ein objektives Korrektiv entgegenzu setzen. Weil das so ist, konnte es mit der Kritik an früherenBerichten relativ gelassen umgehen. Zu nennen wäre der Bericht zu Atorvastatin, oder auch derkürzlich vorgestellte und vom Gemeinsamen Bundesausschuss mittlerweile imSinne des IQWIG umgesetzte Bericht zu den Analoginsulinen.
Gesucht: Studienteilnehmer für ein Himmelfahrtkommando
Mit seinem jetzt vorgelegten Vorbericht zu Sinn und Unsinn derStammzelltransplantation bei Patienten mit akuten Leukämien betritt dasInstitut Neuland. Nicht nur geht es diesmal nicht um chronischeErkrankungen, sondern sehr unmittelbar um Leben und Tod. Man wagt sichaußerdem in einen Bereich, wo keine mächtige Industrielobby zur Handist, gegen die man sich, direkt oder indirekt, positionieren kann.Stattdessen legt sich das Institut diesmal sehr viel unmittelbarer mitder Ärzteschaft an, und das auch noch im Fachgebiet der Onkologie , wodas Verständnis der Bevölkerung für Sparmaßnahmen gegen Null geht.
Doch der Reihe nach: Der IQWIG-Vorbericht stellt verschiedeneEinsatzszenarien der myeloablativen und nicht-myeloablativenStammzelltransplantation in Frage, und zwar nicht, soviel darf manunterstellen, weil deren Wirksamkeit ernsthaft angezweifelt wird,sondern weil die vorliegenden Studien den IQWIG-Anforderungen nichtgenügen. Das markanteste Beispiel ist das der Transplantation vonStammzellen eines Fremdspenders bei akuter myeloischer oderlymphatischer Leukämie . Hier kommt das IQWIG zu dem Schluss, dassdieses Einsatzszenario nicht evidenzbasiert sei.Der Grund:Randomisiert-kontrollierte Vergleichstudien mit der alsTherapiestandard angesehenen, natürlich wesentlich billigeren,Chemotherapie fehlten. Der Nutzen sei damit nicht belegt.
"Diese Studien gibt es tatsächlich nicht. Es gibt sie nur fürFamilienspender", gibt auch der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft fürHämatologie und Onkologie (DGHO), Professor Gerhard Ehningerzu. Was es aber gibt, sind Vergleichstudien, die zeigen, dass sich dieErfolgsquoten der Fremdspende nicht von denen der Familienspendeunterscheiden. "Die Kurven sind praktisch deckungsgleich", so Ehninger.Und für die Familienspender gibt es die geforderten Vergleichsstudienmit der Chemotherapie zu Hauf. Sie zeigen, dass das Langzeitüberlebenvon Patienten mit Hochrisikoleukämie nicht mehr bei zehn Prozent imersten Jahr liegt, sondern bei vierzig Prozent, wenn die Stammzellenzusätzlich eingesetzt werden. "Kein Patient auf der Welt würde heutenoch an den Vergleichsstudien mit Chemotherapie teilnehmen, die dasIQWIG gerne sähe", so Ehninger.
Der Bedarf ist größer als die Zahl der Familienspender
Die methodische Frage hinter der Diskussion lautet, ob es sich beimEinsatz von Fremd- und Familienspenderzellen um unterschiedlicheVerfahren handelt. Bei der DGHO, die ihre Kritik in einer sehrpointierten Stellungnahme öffentlich gemacht hat, siehtman das nicht so: "Was Aufbereitung der Zellen und Zellauswahl angeht,sind beides völlig identische Verfahren", unterstreicht ProfessorMatthias Freund von der Universität Rostock. Die myeloablativeStammzelltransplantation nach der ersten Remissionsinduktion mittelsChemotherapie sei heute weltweit medizinischer Standard. MitFamilienspendern alleine ist das organisatorisch nicht zu machen: "Nurfür etwa dreißig Prozent aller Patienten gibt es überhaupt einenFamilienspender", unterstreicht Freund. Bei allen anderen, inDeutschland sind das rund 700 Patienten pro Jahr, kommen Fremdspenderzum Zug. Sie alle müssten künftig auf eine von Experten weltweit alsüberlegen angesehene und zumindest indirekt auch belegte Therapieverzichten, sollte das IQWIG-Verdikt in Politik übersetzt werden.Kritisch sehen die Hämatologen auch, dass nicht hinreichendunterschieden wird zwischen jenen Formen der Leukämie, die rasch zumTode führen und jenen, bei denen das nicht so ist. Das ist sehrrelevant, denn das IQWIG macht die Frage, ob Fallserien als Beleg füreinen Nutzen heran gezogen werden oder nicht, unter anderem davonabhängig, wie die Prognose ist. Dieser letzte Punkt ist wahrscheinlichdas argumentative Einfallstor, über das im Rahmen der für den 29.August 2006 angesetzten Expertenanhörung noch deutliche Änderungen inden Vorbericht eingebracht werden.
Welche Verfahren sind gleich? Und für wen gelten Studien?
Stärker als all seine Vorgänger wirft der Vorbericht zurStammzelltransplantation die Frage auf, was Evidenz ist beziehungsweisewo die Grenzen der evidenzbasierten Medizin liegen. Die Festlegungdarauf, dass zwei Verfahren unterschiedlich sind, und die darausresultierende Forderung nach zusätzlichen Studien, hat mit Evidenznichts zu tun, sondern mit Definition. An anderer Stelle, etwa bei derVollorgantransplantation, wo zumindest bei der Niere das ThemaFamilienspende mit auf dem Tablett ist, wird diese Unterscheidung mitgutem Grund nicht gemacht. Bei den Blutstammzellen wird sie nurdeswegen gemacht, weil es hier mehr potenzielle Familienspender gibt,die keine negativen Folgen der Knochenmarkspende zu erwarten haben.Ebenfalls Definition ist die Festlegung auf einen Therapiestandard. Wersich darauf festlegt, dass der Standard bei der akutenHochrisikoleukämie die Stammzelltherapie mit Familienspendern ist, derdürfte Vergleichsstudien zwischen Fremdzellspende und Chemotherapieeigentlich gar nicht mehr fordern.