Personen mit Borderline-Symptom laufen mit dem Kopf gegen die Wand, empfinden aber kaum Schmerzen. Das neuronale Netzwerk in ihrem Gehirn hat sich offensichtlich auf Schmerzunterdrückung eingestellt. Neugierig gewordene Schmerzforscher wollen jetzt der Frage nachgehen, welche Mechanismen dahinter stecken und und ob sie sich auch bei Schmerzpatienten nutzen lassen.
Hoffnung für BPS- und chronische Schmerz-Patienten
Die Selbstverletzung bei Borderline-Patienten könnte eine Art vonSelbstheilungskraft sein, so die Vermutung von deutschen undschweizerischen Forschern. Anlass dazu gibt das Ergebnis ihrer neuenStudie zur Schmerzverarbeitung von Frauen mitBorderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Bekannterweise empfindenBetroffene, die sich unter Stressbedingungen Schnitt- undVerbrennungswunden zufügen oder den Kopf an der Wand blutig schlagen,nur reduzierten bzw. gar keinen Schmerz. Die Studie wurde von Forscherndes Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, derNeurophysiologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und derUniversitätsklinik für Psychiatrie in Bern durchgeführt. DieErkenntnisse über die Schmerzverarbeitung sollen in die Behandlung vonBPS-Patienten einfließen. Außerdem hoffen die Wissenschaftler, dass dieForschungsergebnisse für die chronische Schmerztherapie hilfreich seinkönnten.
Der Schmerzunterdrückung auf der neuronalen Spur
In früheren Studien hatten die Forscher aus Mannheim und Mainzherausgefunden, dass die Schmerzentstehung und -weiterleitung beiBPS-Patienten normal funktioniert. Ebenso unauffällig reagierten dieschmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn. Das führte zu demSchluss, dass es sich "um einen völlig neuartigen, aktivenneurobiologischen Mechanismus der Schmerzunterdrückung durchzentralnervöse Plastizität" handelt. Für diese Arbeit erhielt das Team2005 den Förderpreis der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS). DerPreis wurde von der Firma Grünenthal GmbH in Aachen gestiftet. Für dieWissenschaftler war es mit den bisherigen Erkenntnissen naheliegend,die Erforschung der neuronalen Korrelate der Antinozizeption, d.h. dererhöhten Schmerzschwelle, zu intensivieren. Dies geschah in Kooperationmit der Berner Universitätsklinik sowie weiteren Arbeitsgruppen ausDeutschland und Italien. Die jüngsten Ergebnisse wurden im Juni 2006von ArchivesGeneral Psychiatry veröffentlicht.
Erhöhte kognitive Schmerzverarbeitung beruhigt die Nerven
Mit einer Feld-Kontroll-Studie, bei der die funktionelle Bildgebungder Magnet-Resonance Tomography (fMRT) zur Messung vonGehirnaktivitäten eingesetzt wurde, sind die Wissenschaftler dem BPS-Phänomen ein gutes Stück näher gekommen. Dabei wurden zwölfBorderline-Patientinnen, die über Selbstverletzungen berichtet hatten,mit zwölf gesunden Probandinnen als Kontrollgruppe verglichen. AllenPersonen wurden unterschiedlich hohe Hitzereize auf dem Handrückenzugefügt. Das Ziel der Forscher war, sowohl das psychophysischeVerhältnis als auch die neuronalen Mechanismen bei sich ändernderSchmerzintensität auszuwerten. Die Untersuchungen zeigten, dass einsubjektiv identisches Schmerzempfinden bei einem Temperatur-Unterschiedvon plus 3°C bei den BPS-Patientinnen gegeben war. AuffälligeUnterschiede, so das Forscherteam, konnten außerdem im dorsolateralenpräfrontalen Kortex, der für die kognitive Schmerzbewertungverantwortlich ist, gemessen werden. Im Vergleich zu den gesundenTeilnehmerinnen wies dieses Hirnareal höhere Aktivitäten auf. NachAbklingen des Schmerzes konnte weiterhin bei den Borderlinern eineBeruhigung im vorderen Cingulum und in der Amygdala, beide Bereichesind bekannt für die emotionale Aufarbeitung, verzeichnet werden.
Hypothesen mit unsicherem Ausgang
Um die Ergebnisse ihrer letzten Fall-Studie interpretieren zukönnen, zogen die Forscher auch andere aktuelle Studien zurSchmerztheorie hinzu. Ihre eigene Hypothese ist, dass dieSelbstverletzung von BPS-Patientinnen einer Normalisierung bzw.Beruhigung in speziellen Hirnregionen, die für emotionale Ausbrücheverantwortlich sind, dient - quasi als eine Art Selbstheilungsversuch.Eine weitere Hypothese ist, dass das wiederholte Zufügen vonVerletzungen die Schmerzschwelle verändert. Allerdings wird auchkonzidiert, dass die Annahmen auf einer Studie mit einer kleinen undausschließlich weiblichen Zahl von Probanden beruhen. Unberücksichtigtblieben mögliche demographische und ethnische Veränderungen. Weiterhinkönne nicht ausgeschlossen werden, dass es auch Korrelationen zwischenSchmerzverarbeitung und Selbstverletzung und dem Posttrauma gibt. Wieauch immer: Hypothesen dienen der Wissenschaft, um bestätigt oderfalsifiziert zu werden.